„Die Zeiten, in denen das Leben ausschließlich durch die schwerfälligen Kräfte der Evolution geprägt wurde, sind vorüber. Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, in dem wir die Herren über die genetische Ausstattung allen Lebens und all ihre vielfältigen, lebensprühenden Folgen sind. Schon jetzt ersetzen wir das taube, dumme, blinde System, das über die Erdzeitalter hinweg das genetische Material auf unserem Planeten geformt hat, durch ein System der bewussten, absichtsvollen, von Menschen gelenkten Evolution.“
Jennifer A. Doudna, Entwicklerin der Genschere und Chemie-Nobelpreisträgerin
(Doudna, J.A.; Sternberg, S.H. (2018) Eingriff in die Evolution)
Die Kräfte der Evolution haben ein Wunderwerk hervorgebracht: Die fein auf einander abgestimmten Lebensgemeinschaften der Ökosysteme.
Der Mensch selbst ist nur ein Teil des Ganzen. Das als „taubes, dummes und blindes System“ abzuqualifizieren, um das eigene Wirken zu erhöhen, zeugt von erstaunlicher Hybris und Blindheit gegenüber der Komplexität der Ökosysteme. Es zeugt von mangelndem Respekt vor unserer unnachahmlichen Mitwelt.
Die Vermutung Doudnas, Evolution würde nur „blind“ den Regeln des Zufalls gehorchen, ist zudem überholt. Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Evolution Mechanismen entwickelt hat, die Ort und Häufigkeit von Mutationen beeinflussen. Geschützte Bereiche im Genom mutieren seltener als andere. Dadurch können „Pflanzen gefährliche Mutationen vermeiden“, wie die Max-Planck-Gesellschaft schreibt. Diese „neue Perspektive auf die klassische Evolutionstheorie“ verändere unser Verständnis von Evolution „drastisch“.
Die geschützten Bereiche sind allerdings kein Hindernis für Genscheren. Beim sog. Multiplexing etwa lassen sich alle Kopien einer DNA-Sequenz auf einen Schlag verändern. Für Pflanzen aus Neuer Gentechnik (NGT) ergibt sich damit eine enorme Verantwortung für eine Risikoprüfung nach dem Vorsorgeprinzip. Die EU-Kommission plant allerdings das Gegenteil: Neue Gentechnik ohne Risikoprüfung. Dies soll für alle Pflanzen gelten, deren Erbgut an bis zu 20 Stellen gentechnisch verändert wurde: rund 450.000 Wildpflanzenarten sollen dereguliert werden! Dieser Vorschlag wird zur Zeit im EU-Rat kontrovers diskutiert.
In einem Punkt jedoch hat Doudna recht: Wir stehen vor einem neuen Zeitalter. Erstmals ermöglicht es die Neue Gentechnik, jedes Gen jeder Lebensform beliebig zu verändern und die Veränderungen innerhalb der jeweiligen Art zu verbreiten. Im Zusammenspiel mit künstlicher Intelligenz wird sich die Eingriffstiefe weiter erhöhen. Die Politik trägt eine nie dagewesene Verantwortung für den Schutz der Ökosysteme.
Die Notwendigkeit, angesichts der technologischen Entwicklung unseren Verantwortungssinn zu schärfen, erkannte der Gründer des Club of Rome, Aurelio Peccei, bereits vor fast 50 Jahren: „Seine technologische Macht überträgt dem Menschen die Verantwortung für Entscheidungen, die einst der Weisheit der Natur oblagen. Der moderne Mensch kann alles verändern, doch darüber vergißt er, sich selbst zu entwickeln.“
Um das Verantwortungsgefühl für die Natur zu entwickeln, muss diese „gefühlt werden”, wie es Alexander von Humboldt ausdrückte. Denn „wer nur sieht und abstrahiert … wird ihr selbst ewig fremd sein.“
Und es braucht soziale Intelligenz. Die können wir von den Bienen lernen. Tanzen 70 % eines Schwarms für ein Ziel, gilt das in der „Bienendemokratie“ als Quorumsentscheid. In der „Menschendemokratie“ sprechen sich 96 % für die Risikoprüfung aller NGT-Pflanzen aus. Doch das Quorum kommt bei den Entscheidern nicht an, denen offenbar die soziale Intelligenz fehlt, Stimmungen ihrer Mitmenschen zu erspüren und ihnen Respekt zu zollen.
Keinesfalls dürfen wir zulassen, dass profitorientierte Agrarkonzerne die „Herren über die genetische Ausstattung allen Lebens“ werden. Man müsste schon taub, dumm und blind sein, um nicht zu erkennen, dass eine derart „gelenkte Evolution“ niemals im Sinne von Biene und Biodiversität sein kann.
Bernd Rodekohr