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Die Biene im Kornfeld

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Von Bernd Rodekohr

Artensterben, Klimawandel, Welternährung: Immer mehr Menschen erkennen, dass die großen globalen Krisen eng miteinander verflochten sind. Forschende sprechen von einer Poly- oder Multikrise. Um diese in den Griff zu bekommen, müssen wir nach ihren Ursachen suchen und verstehen, wie die Krisen der Landwirtschaft, des Klimas und der Biodiversität zusammenhängen. Was hat die Biene mit dem Kornfeld zu tun, das Kornfeld mit der Artenvielfalt, die Artenvielfalt mit der Landwirtschaft, die Landwirtschaft mit der Börse und die Börse wiederum mit der Biene?

 

Biene, Zwitter oder Wind: Wer bestäubt das Kornfeld?

Vor Kurzem wurde ein regelrechter „Shitstorm“ von Rechtspopulisten und Agrarindustrie­-freundlichen Medien losgetreten, als im ZDF in einem Beitrag über das Insektensterben behauptet wurde, die meisten Getreidesorten würden von Insekten bestäubt. Das ist natürlich Unsinn. Doch ganz aus dem Häuschen, dem ZDF „Fake News“ nachweisen zu können, nutzte manche:r die Gelegenheit, auch das Insektensterben mit in Zweifel zu ziehen.

Inzwischen hat das ZDF sich für seinen peinlichen Fehler entschuldigt und den Beitrag korrigiert. Dennoch behauptet die „künstliche Intelligenz“ ChatGPT weiterhin unverdrossen, Bestäuber seien „für die erfolgreiche Befruchtung der Weizenblüten unerlässlich“. Nicht ohne Grund warnen Expert:innen davor, Antworten der KI allzu ernst zu nehmen.

Tatsächlich ist Getreide selbstbestäubend. Eine Ausnahme bilden Roggen und Mais. Sie werden als einzige Getreidearten vom Wind bestäubt. Insekten spielen bei der Bestäubung von Getreide hingegen so gut wie keine Rolle. Auf den ersten Blick scheinen Bestäuber und Getreide also tatsächlich nichts miteinander zu tun zu haben. Doch der Eindruck täuscht. In der Natur, das wusste schon Alexander von Humboldt, „hängt alles mit allem zusammen“.

 

Getreidefelder: Von Bestäuberparadiesen zu Agrarwüsten

Mitte des letzten Jahrhunderts waren Getreidefelder noch wahre Paradiese für Bestäuber. Ein üppiges Blumenmeer säumte die Wegesränder, ungezählte Blüten mischten sich leuchtend rot, blau und weiß ins goldene Kornfeld. Sie boten Bienen und anderen Bestäubern reichlich Nahrung und wurden von den Bauern notgedrungen toleriert. Doch mit dem Einzug großer, schwerer Maschinen in den 1950er- und 60er-Jahren, mit Hochleistungs-Saatgut, chemischem Dünger und Pestiziden, verwandelten sich Kornfelder von Bestäuberparadiesen zunehmend in Agrarwüsten.

Ackerwildkräuter, die in den Fünfzigerjahren noch fast die gesamte Ackerfläche bedeckten, wachsen heute in der Intensivlandwirtschaft mit Kunstdünger und Pestiziden nur noch auf knapp 5 Prozent der Ackerfläche. Die Zahl der Pflanzenarten im Grünland ging um 30 Prozent zurück, im Ackerland, dem inneren Bereich der Felder, um 71 Prozent. Weniger Ackerwildkräuter bedeuten weniger Insekten, weniger Insekten bedeuten weniger Vögel. Denn je weniger Insekten es gibt, desto weniger Nahrung gibt es für Vögel und desto weniger Nachwuchs können sie aufziehen. Seit 1980 ist die Zahl der Vögel in Europa laut einer im Fachjournal PNAS veröffentlichten Studie um ein Viertel gesunken. Insbesondere die Ausweitung der intensiven Landwirtschaft und der verstärkte Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln schadet den Vögeln, schreiben die Forschenden. Die Autor:innen warnen, dass ohne einen schnellen Pestizidausstieg das „Schicksal der europäischen Vogelpopulationen“ auf dem Spiel stehe.

Dabei regulieren sich Ackerwildkräuter bei entsprechender Vielfalt untereinander, weil sie um Ressourcen konkurrieren. Je vielfältiger eine Ackerwildkrautgesellschaft, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte „Problem-Unkräuter“ wie Vogelmiere, Acker-Kratzdistel oder Huflattich überhandnehmen. Mehr Ackerwildkräuter bedeuten zugleich mehr Artenvielfalt: Räuber und Pflanzenfresser halten sich gegenseitig in Schach. So lassen sich Pestizide reduzieren.

 

Mehr Wachstum bedeutet weniger Artenvielfalt

Für eine intakte, bienenfreundliche Agrarlandschaft muss also eins ins andere greifen. Einzelmaßnahmen wie Pestizidreduktion gehen zwar in die richtige Richtung, reichen aber bei weitem nicht aus. Die Problematik fasste der sechste globale Umweltbericht der Vereinten Nationen zusammen, an dem 250 Wissenschaftler:innen und Expert:innen aus mehr als 70 Ländern gearbeitet haben: Das Artensterben hat Ursachen, die in der Fixierung auf ökonomischem Wachstum liegen.

Auch die Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums, Katrin Böhning-Gaese, sieht die übergeordnete Ursache für das Artensterben in einer Landwirtschaft, deren Maxime es ist, „so viel [zu] produzieren, wie irgendwie möglich“. Deren Begleiterscheinungen seien Pestizide wie Glyphosat, hohe Düngeraten, Monokulturen und eine Anbaukultur, die zum Verlust von Hecken, Bäumen und Brachflächen geführt hat. Großräumige intensivlandwirtschaftliche Strukturen und eine geringe Pflanzenvielfalt wirken sich auch auf Vögel aus, denen die Brutstätten und Verstecke fehlen. Oder auf Bestäuber, denen zwar kein Bett, aber das Buffet im Kornfeld fehlt.

Die Fixierung auf Ertragssteigerungen durch intensive Landwirtschaft hat inzwischen sogar das Versprechen der Konzerne, so für mehr Ernährungssicherheit sorgen zu können, ins Gegenteil verkehrt: Rund 20 Prozent der Agrarflächen weltweit bringen weniger Erträge als vor 20 Jahren. Zu dieser überraschenden Erkenntnis kommt ein internationales Forschungsteam im Auftrag der Welt­ernährungsorganisation FAO nach der Auswertung von 89 Studien. Den Grund sehen die Forschenden in der zunehmenden Verarmung der Agrarökosysteme und darin, dass für den Schutz des Artenreichtums zu wenig getan wurde.

 

Artenvielfalt hat einen Preis

Erst allmählich beginnen die Menschen zu erkennen, dass eine gesunde, vielfältige Biodiversität der eigentliche Schlüssel zu nachhaltiger Ernährungssicherheit ist. Die Artenvielfalt im Kornfeld steigt etwa bei größeren Reihenabständen und blühenden Untersaaten deutlich an. Und die mittlere Artenzahl bei Ackerwildkräutern liegt unter ökologischer Bewirtschaftung um 95 Prozent höher als unter konventioneller Bewirtschaftung. Auf ökologisch bewirtschafteten Feldern und Wiesen sind 35 Prozent mehr Feldvogelarten und 23 Prozent mehr blütenbesuchende Insekten zu finden. Auch bei den Umwelt- und Klimawirkungen ist der Ökolandbau dem konventionellem überlegen, wie eine neue Studie der TU München zeigt. Ökolandbau hat die niedrigeren Folgekosten.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass mehr Biodiversität in der Agrarlandschaft ihren Preis hat. Die Artenvielfalt im Kornfeld steigt zwar bei größeren Reihenabständen und blühenden Untersaaten deutlich an, doch zugleich sinkt der Ernteertrag für die Landwirt:innen. Wir müssen daher als Gesellschaft bereit sein, Ökosystemleistungen von Bauern und Bäuerinnen für eine bienenfreundliche Landwirtschaft angemessen zu honorieren.

 

Teller, Tank und Trog – Getreide und „Fake News“

Das von der Agrarindustrielobby gern bemühte Argument, pestizid- und mineraldüngerfreie Landwirtschaft erbringe weniger Ertrag als industrielle Intensivlandwirtschaft, ist zunächst richtig. Die Schlussfolgerung allerdings, dass eine Welt, die sich ausschließlich von bienen- und artenvielfaltsfreundlich erzeugten Lebensmitteln ernähren würde, mehr Anbaufläche bräuchte, ist irreführend. Nur rund 23 Prozent des in Deutschland verwendeten Getreides landet auf dem Teller. Unfassbare 54 Prozent verschwinden im Trog, rund 10 Prozent im Tank. Hier lassen sich riesige Anbauflächen einsparen.

EU-weit werden fast zwei Drittel der Getreideproduktion und 70 Prozent der Ölsaatenproduktion als Tierfutter verschwendet. Und man muss hier von Verschwendung sprechen, denn damit ein Mensch eine tierische Kalorie zu sich nehmen kann, muss das Tier bis zum siebenfachen an pflanzlichen Kalorien aufnehmen. Vertuscht wird dieser Wahnsinn auch durch die Trennung von Weizen in Brot- und Futterweizen. Diese unterscheiden sich nur minimal in ihrer Backfähigkeit. Doch dank der „Fake News“ von Agrarindustrie und Bauernverband, mit Futterweizen könne man kein Brot backen, lässt sich das wertvolle Nahrungsmittel ohne schlechtes Gewissen in den Trog kippen – oder als Agrokraftstoff verfeuern.

Wir müssen uns bewusst machen, dass wir in einer Zeit der Überproduktion an Nahrungsmitteln leben. Nach Schätzungen der FAO gab es zuletzt weltweit fünf Getreide-Rekordernten in Folge. Zudem landen jedes  Jahr  mindestens 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel unnötigerweise im Müll. Allein damit könnte man zwei Milliarden Menschen ernähren. Wir produzieren nicht zu wenig Nahrungsmittel. Wir vergeuden sie und wir verteilen sie ungerecht und zu überteuerten Preisen.

 

Systemische Krisen: Viele Ursachen, fatale Wirkungen

Doch auch Dumpingpreise für Lebensmittel sind ein Problem. Jahrelang wurde Afrika mit Billigweizen geflutet, heimischer Getreideanbau verdrängt, Kleinbauern und -bäuerinnen wurden um die Existenz gebracht, Abhängigkeiten wurden geschaffen. Dabei ist afrikanisches Getreide wie Hirse wesentlich dürreresistenter als Weizen oder andere Körnerfrüchte. Sorghum-Hirse verbraucht nur ein Drittel der Wassermenge von Mais und kann mehrfach im Jahr geerntet werden. Inzwischen jedoch sind Länder wie Ägypten und der Jemen absolut abhängig von den Preisen auf einem Weltmarkt, den fünf globale Agrarhandels­konzerne unter sich aufgeteilt haben. Leidtragende der Marktkonzentration und der daraus resultierenden riesigen Felder mit Rein- und Monokulturen, die nur „dank“ enormer Mengen an Herbiziden und Insektiziden betrieben werden können, sind nicht zuletzt die Bestäuber und die Artenvielfalt insgesamt.

Die Dominanz weniger Konzerne behindert durch Preisabsprachen einen funktionierenden Wet­tbewerb im Ernährungs– und Agrarsektor. Ganz wesentlich getrieben wird der Preis für Getreide und andere Lebensmittel zudem durch Spekulation an den Finanzmärkten. Nach Angaben der FAO waren die extremen Preisschwankungen für Nahrungsmittel 2007/2008 ein wichtiger Grund für den Anstieg der Zahl der Hungernden auf mehr als eine Milliarde Menschen. Auch der aktuelle Weizenpreis wird stärker durch Börsen-Spekulationen getrieben als durch Putins völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Direkt nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine stiegen die Weizenpreise in wenigen Tagen um 63 Prozent. Die Gründe dafür wurden kaum hinterfragt, obwohl die globalen Speicher gut gefüllt waren. Und obwohl der Krieg gegen die Ukraine anhält, sind die Weizenpreise heute niedriger als vor dem Krieg.

Dabei sind Spekulation mit Agrarrohstoffen grundsätzlich nichts Verwerfliches, solange sie dazu dienen, Erzeuger:innen die notwendige Liquidität und Sicherheit für die Abwicklung von Warentermingeschäften bereitzustellen. Problematisch sind hingegen „Spekulationsblasen“. 2019 wurde mit der 6,8-fachen Menge der realen Weizenernte spekuliert. Solche Spekulationen können zu enormen Preisschwankungen führen. Je mehr die Preise schwanken, desto teurer wird die Absicherung für die Produzent:innen – und umso teurer werden in der Regel die Lebensmittelpreise. Wir bräuchten daher strengere Finanzmarkt-Regeln, die verhindern, dass Lebensmittelpreise zusätzlich durch Spekulation in die Höhe getrieben werden.

Letztlich hängt auch hier alles mit allem zusammen: Der Hunger mit der Börse, die Marktkonzentration im Agrarbereich mit Pestiziden und Agrogentechnik, die steigenden Lebensmittelpreise mit den Fluchtursachen  und die Fluchtursachen letztlich auch mit der Börse. Es ist wichtig, diese komplexen Zusammenhänge zu verstehen, um die systemische Multikrise wirksam an ihren Wurzeln bekämpfen zu können.

 

Futterweizen und Energiemais statt Biodiversität?

Klar ist auch, dass wir, um Lebensmittelpreise bezahlbar zu machen, keine Stilllegung von Biodiversitätsflächen zu Lasten von Biene & Co. brauchen, sondern strengere Regeln auf einem Finanzmarkt, der Lebensmittelpreise durch schrankenlose Spekulation künstlich in die Höhe treibt. Wir brauchen Gesetze, die verhindern, dass 65 Prozent des bei uns produzierten Getreides in Tank und Trog verschwinden dürfen und nur 23 Prozent auf den Teller kommen. Doch so lange das Schlagwort „Ernährungssicherheit“ der Agrarindustrie als Vorwand für Pestizide, Agrogentechnik und ein generelles „Weiter so!“ dient, werden wir die Multikrise nicht in den Griff bekommen.

2022 knickte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir unter dem Druck der Agrarlobby ein und setzte die Verpflichtung aus, für den Schutz der Biodiversität 4 Prozent nichtproduktiver Flächen bereitzustellen und eine abwechslungsreiche Fruchtfolge auf dem Acker zu gewährleisten. Als Argument für die Opferung ökologischer Vorrangflächen musste die „Ernährungssicherheit“ herhalten, die angeblich durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gefährdet war. Dabei haben die Biodiversitätsflächen kaum Einfluss auf Getreideproduktion und Preise, wie eine Analyse der Böll-Stiftung nachweist.

Selbst wenn diese Flächen komplett für den Getreideanbau genutzt würden, wäre das lediglich eine Erhöhung der weltweiten Produktion um 0,8 Prozent. Für den Weizenpreis ergäbe sich eine marginale Änderung von etwa 0,4 Prozent. Um die bedrohte Biodiversität zu schützen, zählt hingegen jedes Prozent mehr an geschützter Fläche. Würden die Biodiversitätsflächen von 5 auf 15 Prozent ausgeweitet, nähme beispielsweise die Artenvielfalt bei Schmetterlingen um 22 Prozent zu.

So hat die Biene also viel mit dem Kornfeld zu tun, das Kornfeld mit der Artenvielfalt, die Artenvielfalt mit der Landwirtschaft, die Landwirtschaft mit der Börse und die Börse mit der Biene. Vor allem aber hat gesunde Artenvielfalt viel mit unserem Verständnis der Ursachen der Artenvielfalts-, Klima-, und Landwirtschaftskrise zu tun. Nur wenn wir sie wirklich verstehen, können wir die richtigen Entscheidungen treffen und Maßnahmen ergreifen.

 

Ein besseres Verständnis der systemischen Ursachen der Multikrise kann Menschen davor schützen, auf die Lügen einer Lobby hereinzufallen, die überlebensnotwendige Rückzugsräume für Tiere und Pflanzen unter dem Vorwand der „Ernährungssicherheit“ ihren Gewinninteressen opfert und nicht zur Kenntnis nehmen will, dass eine andere Agrar-Kultur für uns alle überlebensnotwendig ist

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