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EU-Kommission pokert um Naturschutz, Pestizide und Neue Gentechnik

Veröffentlicht am

Von Bernd Rodekohr

Um den Schutz der Biodiversität vor intensiver Landwirtschaft und vor Pestiziden wird gerade hoch gepokert. Die EU-Kommission will die Agrarindustrie-Lobby zu Zugeständnissen für eine Pestizidreduktion bewegen. Deshalb hält sie ihr – sozusagen als Möhre – die Deregulierung der neuen Agrogentechnik (NGT) hin. Die großen Verlierer bei diesem Pokerspiel dürften freilich der Verbraucher- und der Naturschutz sein. Über 300 NGOs, darunter die Aurelia Stiftung, fordern die Europäische Kommission daher auf, die neue Gentechnik evidenzbasiert, biodiversitäts- und verbraucherfreundlich zu regulieren.

Naturschützer:innen aus der gesamten EU verfolgten die Ereignisse der vergangenen Wochen mit Sorge. Zuerst hatten sich die konservative Europäische Volkspartei EVP und Rechtspopulisten im EU-Parlament gegen das „Naturwiederherstellungsgesetz“ (Nature restoration law, NRL) und die „Verordnung zur nachhaltigen Verwendung von Pestiziden“ (SUR) der EU-Kommission gestellt. Daraufhin erhöhte Vize-Kommissionspräsident Frans Timmermans den Druck auf den EU-Agrarausschuss: Eine Aufweichung des Gentechnikrechts, wie die Industrie sie wünscht, werde es nur zusammen mit einer Pestizidreduktion geben. Dennoch fand sich im Landwirtschaftsausschuss des Europaparlaments keine Mehrheit für die Pläne Timmermans‘. Die Berichterstatterin der konservativen EVP-Fraktion, Anne Sander, sagte, der Gesetzesvorschlag zur „Erhöhung der Artenvielfalt“ und zur „Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5°C“ sei vom Ausschuss als „Provokation“ empfunden worden. Damit geht das Pokern um den EU-„Green Deal“ in die nächste Runde.

 

175.000 Tonnen Pestizide sind 175.000 Tonnen zu viel

Mit der SUR will die Kommission den Pestizideinsatz in der EU bis 2030 halbieren. Das wären allerdings Jahr für Jahr noch immer über 175.000 Tonnen Pestizidwirkstoffe. Viel zu viel, um das Artensterben wirksam zu stoppen. Aus Sicht von Bienen und Bauern müssten die EU-Mitgliedstaaten bis 2035 komplett pestizidfrei sein. Dies fordern auch mehr als eine Million Menschen im Rahmen der Europäischen Bürgerinitiative „Bienen und Bauern retten!“, die auch von der Aurelia Stiftung unterstützt wurde. Für eine echte Agrarwende ohne biodiversitätsschädliche Intensivlandwirtschaft braucht es zudem kleinteiligere und vielfältiger strukturierte Agrarlandschaften und nachhaltige Anbaumethoden. Die EU-Länder müssen den Ökolandbau und die Forschung zu pestizid- und gentechnikfreiem Anbau fördern.

Dass die Intensivlandwirtschaft Haupttreiber für das katastrophale Artensterben ist, hat erst kürzlich eine neue, groß angelegte Studie im Fachjournal »Proceedings of the National Academy of Sciences« belegt. Landwirtschaftliche Intensivierung dezimiert demnach die Vogelpopulationen überall in Europa, insbesondere derjenigen, die auf Insekten als Nahrung angewiesen sind: Nichts existiert in der Natur für sich allein.

 

EU-Kommission darf keinen faulen Kuhhandel eingehen

Gemeinsam mit über 300 zivilgesellschaftlichen Organisationen hat sich die Aurelia Stiftung in einem Offenen Brief an Frans Timmermans dafür stark gemacht, dass es bei einer strengen, individuellen Risikoprüfung für alle gentechnisch veränderten Pflanzen bleibt. Gentechnik-Produkte sollten weiterhin als „Gentechnik“ gekennzeichnet sein. Dies werde „mögliche negative Auswirkungen auf die Natur und die Gesundheit von Mensch und Tier minimieren und das Vorsorgeprinzip sowie das Recht der Verbraucher und Landwirte auf Information als wichtige politische und soziale Errungenschaften der EU aufrechterhalten“, heißt es in dem Brief der Nichtregierungsorganisationen.

Darüber hinaus hat sich die Aurelia Stiftung in einem gesonderten Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, sowie an die EU-Kommissare Virginijus Sinkevičius (Umwelt) und Janusz Wojciechowski (Landwirtschaft) gewendet. Darin mahnen wir eine evidenzbasierte Entscheidungsfindung für die Regulierung von Pflanzen aus neuer Gentechnik an. Denn zurzeit begründet die EU-Kommission die geplante weitreichende Deregulierung der NGT damit, dass NGT-Pflanzen dazu beitrügen, die Green-Deal-Ziele Nachhaltigkeit und Klimaanpassung zu erreichen. Die Aurelia Stiftung weist darauf hin, dass diese angebliche „Nachhaltigkeit“ nicht belegt und nicht messbar ist. Es ist also ein Versprechen, das nicht auf Beweisen – nicht auf Evidenz – beruht.

 

Schäden für das Ökosystem können irreparabel sein

Wenn die Einzelfall-Risikoprüfung für alle Pflanzen aus Neuer Gentechnik abgeschafft wird, „wären die Schleusen geöffnet für eine unbekannte Dimension von Umweltrisiken mit möglicherweise irreparablen Schäden für die empfindlichen Stoffwechsel- und Signalwege im Ökosystem“, schreiben Vorstand Matthias Wolfschmidt und Gentechnik-Referent Bernd Rodekohr von der Aurelia Stiftung an die EU-Vertreter:innen. Auch das Bundesamt für Naturschutz (BfN) kommt zu dem Ergebnis, dass NGT ein erhebliches Risikopotenzial bergen.

 

Keine Patente auf Gene!

Ganz unabhängig von den Risiken für das Ökosystem behindert die geplante Deregulierung der Neuen Gentechnik züchterischen Fortschritt und schwächt biologische Vielfalt. Denn mit Crispr-Patenten lassen sich auch solche Pflanzeneigenschaften patentieren, die es in der Natur gibt oder die in der Natur vorkommen könnten. Patente auf Gene können den Zugang aller Menschen zur biologischen Vielfalt blockieren und die Pflanzenzucht für eine Anpassung an den Klimawandel behindern. Auch aus diesem Grund spricht sich der Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter gegen die Patentier­barkeit von Gensequenzen aus, die in der Natur vorkommen.

Wenn wir das Artensterben stoppen wollen, müssen wir Intensivlandwirtschaft mit ihren großflächigen biodiversitätsschädlichen Rein- und Monokulturen überwinden. Eine solche Landwirtschaft, die auf einer Ideologie der Produktivitätssteigerung mittels maximaler Industrialisierung beruht, können wir uns angesichts des katastrophalen Artensterbens nicht mehr leisten. Wir müssen den Blick endlich auf die vorhandenen Lösungen richten und diese konsequent umsetzen, statt weiter auf die wolkigen Versprechungen der Agrarindustrie zu vertrauen.

Brief der Aurelia Stiftung an die EU-Kommission

Brief von über 300 NGOs an Frans Timmermans

Ansprechpartner

Bernd Rodekohr
Fachreferent "Biene und Gentechnik"
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