Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die EU-weit verbreitete Praxis der Notfallzulassungen von bienengefährlichen Ackergiften in der Landwirtschaft für unzulässig erklärt. Umweltorganisationen hatten diese Praxis in Belgien und Österreich beklagt. Durch das Urteil wird etwa die Hälfte der von EU-Mitgliedsstaaten zurzeit gewährten Notfallzulassungen hinfällig.
Es ist ein wichtiges Urteil für den Bienenschutz und die Umwelt: Der EuGH hat am 19. Januar 2023 den sogenannten Notfallzulassungen von bienengefährlichen Pestiziden aus der Gruppe der Neonicotinoide (kurz: Neonics) in der EU einen Riegel vorgeschoben. Die Umweltorganisation Global2000 und das Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Europe) hatten in Österreich und Belgien Beschwerden gegen die Notfallzulassungen von Thiamethoxam und Clothianidin eingelegt.
„Leider betrifft das Urteil lediglich zwei verbotene Wirkstoffe“, sagte Thomas Radetzki, Vorstand der Aurelia Stiftung. Insgesamt gab es in Deutschland allein im Jahr 2022 mehr als 70 Notfallzulassungen von Pestiziden.
Dennoch wertet Thomas Radetzki das Urteil als bedeutenden Sieg: „Das höchste europäische Gericht verpflichtet die Mitgliedsstaaten das Vorsorgeprinzip anzuwenden, um Bienen und Menschen zu schützen“, sagte er.
Seit Jahren finde das offizielle Deutsche Bienenmonitoring mehr als 60 verschiedene Ackergifte in dem Blütenpollen, von dem unsere Wild- und Honigbienen ihre Brut ernähren, so Thomas Radetzki. Deutschland gehöre zu den Spitzenreitern beim Einsatz von Pestiziden – ein Abwärtstrend sei nicht erkennbar. Die ökologische Agrarproduktion sieht er als die einzige wirksame Vorsorge für Biene, Mensch und Natur.
Thomas Radetzki kritisierte auch die EU-Agrarförderung: „Mit Milliarden von Steuergeldern auch aus Deutschland wird per Gießkannenprinzip eine umweltschädliche EU-Agrarproduktion subventioniert. Wir fordern einen konsequenten Bienenschutz durch Verbote von Pestiziden wie Glyphosat und Neonicotinoiden. Wir können nicht immer warten, bis Gerichte unsere umweltpolitischen Probleme lösen.“
Was sagt der EuGH zu der Praxis der „Notfallzulassungen“?
Gemäß dem Urteil des EuGH ist es unrechtmäßig, wenn EU-Mitgliedsstaaten Notfallzulassungen für die Anwendung von Pestizid-Wirkstoffen erteilen, die von der EU-Kommission explizit verboten wurden. Das Gericht bezieht sich unter anderem auf das europäische Vorsorgeprinzip. Es stellt klar, dass die Gesundheit von Mensch und Tier sowie der Schutz der Umwelt bei einer Pestizid-Zulassung Vorrang vor dem Ziel haben, die Pflanzenproduktion zu verbessern. Von dem Saatgut, das mit verbotenen Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde, könne „eine schwere Gefahr für die Umwelt und die Gesundheit von Menschen oder Tieren ausgehen“.
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) habe ermittelt, dass für die meisten landwirtschaftlichen Kulturen ein hohes akutes beziehungsweise chronisches Risiko für Bienen aufgrund der Verwendung von Pestiziden mit dem Wirkstoff Clothianidin bestehe. Dieses entstehe „insbesondere durch die Exposition gegenüber Staub und aufgrund der Aufnahme von Rückständen in kontaminiertem Pollen und Nektar“. Auch gehe von Saatgut, das mit Thiamethoxam behandelt wurde, eine Gefahr für Bienen aus.
Der EuGH betont weiterhin, die EU-Mitgliedsstaaten müssten alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um eine Schädlingsbekämpfung mit geringem Pestizideinsatz zu fördern. Dabei müssten wo immer möglich nicht-chemische Methoden genutzt werden. Bei der professionellen Anwendung müssten daher Praktiken und Produkte mit dem geringsten Risiko für die menschliche Gesundheit und die Umwelt genutzt werden.
Eine lange Vorgeschichte auch mit Beteiligung von Aurelia
Der EuGH hatte bereits im Mai 2021 in letzter Instanz entschieden, dass die seit 2013 bestehenden EU-Teilverbote der bienenschädlichen Neonicotinoide Clothianidin und Imidacloprid des deutschen Chemiekonzerns Bayer sowie von Thiamethoxam (Syngenta) aufrechterhalten bleiben. Bayer hatte zuvor gegen das Teilverbot Beschwerde eingelegt. Jedoch hatten sich auch Imkerverbände, unterstützt durch die Aurelia Stiftung, in das Gerichtverfahren eingeschaltet und sich für einen Bestand des Verbots eingesetzt.
Der EuGH urteilte schließlich, dass nur noch Pestizidwirkstoffe eingesetzt werden, die nachweislich unschädlich sind. Die EU-Kommission darf auch in Verdachtsfällen handeln. Das Urteil hatte herausragende Bedeutung für den Umwelt- und Insektenschutz. Im Zusammenhang mit dem Verfahren waren gravierende Mängel der Risikoprüfung aufgedeckt worden.
Skandal aufgedeckt: Viele schädliche und gefährliche Pestizide noch immer im Einsatz
Erst wenige Tage vor dem neuen Urteil hatte das Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN) aufgedeckt, dass Pestizide, die von der EU als schädlich oder gefährlich eingestuft und deshalb verboten wurden, noch immer in Lebensmitteln oder in der Umwelt zu finden sind. Dass viele EU-Länder den Einsatz weiterhin zulassen, sei ein weit verbreiteter Missbrauch von Ausnahmeregelungen, meint auch PAN.
Der PAN-Bericht „Banned Pesticides still in use in the EU“ (zu Deutsch: „Verbotene Pestizide, die in der EU immer noch verwendet werden“) zeigt, dass viele giftige Substanzen in den letzten Jahren immer noch in großem Umfang eingesetzt wurden. Darunter seien sogar krebserregende, mutagene und genotoxische Pestizide sowie solche mit starken negativen Auswirkungen auf die Umwelt – und auch Ackergifte, die hochgiftig für Bienen sind.
PAN hatte die Notfallzulassungen für 24 Pestizidwirkstoffe in den Jahren 2019 bis 2022 analysiert, die alle in der EU verboten wurden, weil sie sich als hochgiftig für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt erwiesen hatten oder zum Anstieg antibiotikaresistenter Krankheitserreger beitragen. Dennoch wurden für 14 dieser Stoffe zwischen 2019 und 2022 insgesamt 236 Notfallzulassungen erteilt. Bei nahezu der Hälfte handele es sich um Pestizide aus der Gruppe der Neonicotinoide, die Bienen und andere Insekten gefährden, so PAN. Österreich stehe bei der Praxis der Notfallzulassungen an der unrühmlichen Spitze, gefolgt von Finnland, Dänemark, Rumänien, der Tschechischen Republik und Griechenland.
Als Hauptnutznießer des Systems der Ausnahmeregelungen sieht PAN die Pestizidindustrie, der viele EU-Mitgliedsstaaten einfach nachgeben würden. Manche EU-Länder jedoch wählen einen anderen Weg: Bulgarien, Luxemburg und Malta haben keine Ausnahmeregelungen für diese sehr giftigen Stoffe genehmigt.
Heftiger Gegenwind von der Agrarindustrie
In Österreich hat das neue EuGH-Urteil zu Neonics bereits dazu geführt, dass Anträge zur Notfallzulassung zunächst nicht weiterbearbeitet werden. Heftige Kritik am Urteil kommt unter anderem vom niederösterreichischen Bauernbund, der Vereinigung Europäischer Rübenbauer und von der Zuckerindustrie, da sich vor allem Betriebe betroffen sehen, die Zuckerrüben anbauen. Dort wurde das Saatgut bislang oft mit Neonicotinoiden gebeizt. Von manchen Landwirt*innen gibt es jedoch auch Unterstützung: Der französische Kleinbauernverband Confédération Paysanne forderte das Urteil des Gerichts „unverzüglich“ umzusetzen und verwies darauf, dass die Prognosen für den Rübenanbau nicht alarmierender seien als in den Vorjahren. Daher sieht er es als ungerechtfertigt an, weiterhin systematisch Neonics einzusetzen.
Aus Sicht der Aurelia Stiftung kommt das EuGH-Urteil gerade noch rechtzeitig, um zumindest einen Teil unserer Bestäuber nicht weiter zu gefährden. Denn die Zuckerrübenaussaat beginnt in wenigen Wochen.
Spannend ist nun die Frage, ob die Praxis der Notfallzulassungen nur bei den Neonicotinoiden rechtswidrig ist oder auch bei anderen Pestiziden. So hat die EU-Kommission erst kürzlich den Einsatz des Totalherbizids Glyphosat für ein weiteres Jahr genehmigt, obwohl die erforderliche aktuelle Sicherheitsprüfung noch nicht abgeschlossen wurde. Die Aurelia Stiftung legt dagegen Rechtsmittel ein.
Weitere Informationen
Zum Urteil des EuGH auf Deutsch
Zur Pressemitteilung des EuGH bezüglich des Urteils (PDF, auf Französisch)