Das EU-weit verbotene Neonicotinoid Thiamethoxam ist im vergangenen Jahr in Deutschland per Notfallzulassung auf 127.000 Hektar Ackerfläche gelandet. Jetzt liegen neue wissenschaftliche Daten und Einschätzungen zu den Auswirkungen auf bestäubende Insekten vor.
Bei aktuellen Laboruntersuchungen des Instituts für Bienenkunde und Imkerei in Veitshöchheim sind hohe Mengen des Wirkstoffs Thiamethoxam in Proben blühender Zuckerrüben-Schosser und Beikräuter gefunden worden. Eigentlich hätten laut der behördlichen Anwendungsauflagen gar keine Pflanzen auf den mit Thiamethoxam behandelten Zuckerrübenäckern blühen dürfen. Dies sollte verhindern, dass Insekten mit dem Nervengift in Berührung kommen. Doch in der Praxis sieht es anders aus, wie die Laboranalysen jetzt nahelegen.
Die Untersuchungen wurden durch das „Aktionsbündnis für eine neonikotinoidfreie Landwirtschaft“ veranlasst und sind heute in einer Pressemitteilung öffentlich gemacht worden. Auf diversen Flächen wurden blühende Beikräuter und Zuckerrüben dokumentiert und schließlich auch im Labor untersucht. Der renommierte Bienenforscher und wissenschaftliche Beirat der Aurelia Stiftung, Prof. Dr. Dr. Randolf Menzel, hat die nun vorliegenden Laborergebnisse angeschaut und fachlich eingeordnet. Zwar sei eine Abschätzung, wieviel Insektengift die Bienen tatsächlich über den Nektar, Pollen oder die Guttationssäfte der behandelten Pflanzen aufnehmen, einigermaßen schwierig. Menzels Einschätzung nach wird bei den zu erwartenden Aufnahmen die letal wirkende Dosis bei weitem überschritten. Die auf den Zuckerrübenfeldern wachsenden Schosser und Beikräuter seien damit für bestäubende Insekten hochgiftig, so Menzel.
Sarah Thullner, Agrarreferentin der Aurelia Stiftung, kommentiert: „Unsere Befürchtungen haben sich leider bestätigt. Die im Zuge der Notfallzulassungen erteilten Anwendungsauflagen, die Insekten schützen sollten, wurden nicht ordentlich umgesetzt und deren Einhaltung unzureichend kontrolliert. Für viele Wildbienen und andere Insekten bedeutete dies vermutlich den Tod.“
Berichte über hohe Völkerverluste im Umkreis der Zuckerrübenfelder
Wie das von der Aurelia Stiftung unterstützte „Aktionsbündnis für eine neonikotinoidfreie Landwirtschaft“ berichtet, seien im Umkreis der Zuckerrübenanbaugebiete ungewöhnlich viele Honigbienenvölker gestorben. Das Bündnis wirft die Frage nach der Verantwortlichkeit der Politik und Zuckerrübenindustrie auf. In seiner aktuellen Pressemitteilung wirft es der Bayrischen Landesanstalt für Landwirtschaft (LfL) vor, ihrer Kontrollpflicht nicht nachzukommen. Entgegen ihrer gesetzlichen Aufgaben sei die Behörde den Meldungen zu Anwendungsverstößen bisher nicht ausreichend nachgegangen.
In allen acht Pflanzen-, Erd- und Wasserproben, die das Aktionsbündnis im Labor untersuchen ließ, war Thiamethoxam feststellbar. Wie der Ökotoxikologe Prof. Dr. Matthias Liess vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in einem Interview feststellt, lagen die in den Wasserproben gefundenen Pestizidrückstandmengen sogar um das Fünfzigfache über dem zulässigen Grenzwert in Gewässern. Laut Liess wird das Gift dadurch nicht nur für Bienen sondern auch für andere sehr wichtige Insekten wie die in Gewässern lebenden Libellen- und Köcherfliegenlarven zur tödlichen Gefahr.
Thiamethoxam und sein Abbauprodukt Clothianidin (ebenfalls ein Neonicotinoid) können sich über lange Zeit im Boden und damit auch in Folgekulturen anreichern. Um Bestäuberinsekten zu schützen, darf deshalb laut Anwendungsauflagen auch im Folgejahr des Zuckerrübenanbaus nichts auf den mit Thiamethoxam behandelten Flächen blühen. Aufgrund der Abschwemmungen durch die Starkregenereignisse im Frühjahr 2021 sind auch einige der angrenzenden Äcker mit dem Neonicotinoid verseucht worden. Das Aktionsbündnis kündigte an, diese Felder auch im nächsten Jahr kritisch in den Blick zu nehmen, und fordert von den Ämtern eine bessere Kontrolle der betroffenen Flächen.
Keine weiteren Notfallzulassungen in 2022
Über die Notfallzulassung von Thiamethoxam im Zuckerrübenanbau hatten wir bereits in früheren Meldungen ausführlich berichtet. Erfreulicherweise hat das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) nach dem öffentlichen Druck des Aktionsbündnisses und der Aurelia Stiftung entschieden, für 2022 keine weitere Notfallzulassung mehr zu erteilen. Das ist besonders dem ehrenamtlichen Einsatz des Aktionsbündnisses zu verdanken, das diesen Umweltskandal zuerst an die Öffentlichkeit gebracht und damit eine deutschlandweite Pressewelle losgetreten hat. Die Aurelia Stiftung ist derweil mit ihren Anwälten aktiv geworden und hat Klageoptionen geprüft, um im Fall künftiger Notfallzulassungen gewappnet zu sein und diese, wenn nötig, vor Gericht anzufechten.
Die jetzt veröffentlichten Laboranalysen zeigen einmal mehr deutlich auf, dass bei einem Freiland-Einsatz von Thiamethoxam und anderen Neonicotinoiden mit schweren Schäden an Bienen und anderen Nichtzielorganismen zu rechnen ist. Auch die von den Behörden erlassenen Anwendungsauflagen konnten nicht verhindern, dass das Insektengift sich unkontrolliert in der Umwelt ausbreitete und zu schwerwiegenden Belastungen der umliegenden Flora und Fauna führte. Insbesondere vor dem Hintergrund des in Deutschland und weltweit dokumentierten Insektensterbens sind Notfallzulassungen für verbotene Neonicotinoide in keiner Weise verantwortbar. Die Aurelia Stiftung setzt sich deshalb weiter auf nationaler und europäischer Ebene für ein Ende aller Pestizid-Notfallzulassungen sowie ein vollständiges Verbot aller Neonicotinoide und anderer bienengefährlichen Pestizidwirkstoffe ein.